Aufgabe des Buches

Wenn man ein Buch schreibt, das die künstlerische Gestaltung der Frauenkleidung behandelt, werden die Meisten wohl erwarten, dass man vor allem eine Anzahl von Abbildungen bringe, die genau zeigen, wie sie ausgeführt auszusehen habe. Dies wäre meiner Meinung nach nicht die Methode, eine thatsächliche Reformation herbeizuführen. Diese Vorschläge würden im besten Falle eine beschränkte Zahl von Anhängern und Nachahmern zur Folge haben, die sich mit den andern Reformbestrebungen mehr oder minder befeinden würden, ohne indessen ein neues Licht über die Materie zu verbreiten. Denn so ziemlich allen diesen aus den verschiedensten Meinungsäusserungen sich zusammensetzenden Bestrebungen fehlt noch durchaus eine gemeinsame Erkenntnis der Voraussetzungen, die die Grundlagen der Bestrebungen bilden müssen.

So lange wir uns alle über die ersten fundamentalen Fragen noch nicht einig sind, fehlt die Organisation. Diese grundlegenden Fragen dürfen aber nicht von Geschmack, Neigung, Gewohnheit oder blindem Autoritätsglauben gelöst werden, sondern unser Bestreben muss es sein, eine neue Basis von absolut festgegründeten Thatsachen zu schaffen, die der Prüfung der exaktesten wissenschaftlichen Beobachtung und dem schärfsten logischen Denken standhält. Diese Basis in völlig umfassender, einwandfreier, den wissenschaftlichen wie den ästhetischen Teil gleich befriedigender Darstellung habe ich bis heut noch nirgend getroffen.

Das, was jetzt die Aufgabe sein müsste, ist die Abfassung eines Dokuments, gleichsam eines Lehrbuches, in dem alle jene anatomischen, pathologischen, hygienischen und ästhetischen Be obachtungen als Voraussetzungen nach strengster Prüfung niedergelegt wären. Kein Widerspruch, keine dualistische Deutung dürfte in demselben zu finden sein. Und in den Besitz dieses darin enthaltenen Wissens müsste ein jedes Mädchen, ein , jedes Kind in der Schule gesetzt werden, damit alle, die dann in Worten und Thaten zu der Bekleidungsfrage Stellung nehmen, nicht mehr in den Tag hineinreden und in fruchtlosem Kampfe ihre Kräfte verpuffen. Die Voraussetzungen müssen ein leicht zugängliches Allgemeingut werden, damit jedermann weiss, von was man redet, und nicht nur in dilettantischer Behandlung all gemeine Schlagworte fallen, unter denen ein jeder sich etwas anderes denkt.

Wenn ich etwas beitragen soll zur Weiterentwicklung dieser ethisch-ästhetischen Bestrebungen, so kann ich dies nach meiner Ueberzeugung nur damit, diese Basis. schaffen zu helfen. Nicht indem ich etwas Fertiges vorführe, von dem ich verlange, dass man es gläubig als das Richtige hinnehme; sondern indem ich den Weg zeige, wie man selbst dahin gelangt. Manchen wird dieser als recht unnötiger Umweg erscheinen. Doch habe ich die Behandlung des Themas, das mich seit mehr als zwölf Jahren gedanklich wie praktisch aufs Intensivste beschäftigt, reiflich überlegt, und es erscheint mir die eingeschlagene Methode als die einzig mögliche, um dem alten Fehler der beweislosen Behauptungen zu entgehen.

Bestrebungen zur Reform der Frauenkleidung sind in den verschiedensten Gestalten aufgetreten. Seit hundert Jahren predigen die Aerzte oder schweigen resigniert. In neuerer Zeit haben nun auch die Künstler begonnen, in das Gebiet der Mode einzudringen. Vielleicht erringen sie sich hier ebenso die Herrschaft, wie im Handwerk und Kunstgewerbe. Aber auch die Künstler müssen eine Basis gemeinsamer Anschauungen beim Publikum und nicht zum mindesten unter sich vorfinden, um einen festen Punkt zu haben, von dem aus sie eingreifen. Mit einem Publikum, das alles missversteht, das alles nur aus Mode mitmacht, und nie zum Wesen der Sache dringt, können auch die besten der Künstler nichts anfangen. Auch die Künstler bedürfen der gemeinsamen Organisation. Denn sie nehmen offenbar an, die Vorarbeit sei schon gethan, das Haus sei schon gebaut, und beginnen mit dem Ausschmücken. Mag auch sein, dass sie oft gar nicht das richtige Verständnis und Interesse für die grundlegenden Fragen besitzen und die Kleinigkeiten ihnen zur Hauptsache werden. Es wird ihnen zum wichtigsten, was für ein Ornament auf das Kleid genäht ist, ob ein naturalistisches oder ein stilisiertes — alles Fragen von zweiter Bedeutung, die einmal später beantwortet werden können. Zwar wollen die verständigeren unter ihnen den Körper von einzwängenden Kleidern befreien, aber dies nur so en passant. Keiner aber legt die Linie des Körpers, wie er bei ganz normaler Entwicklung ist, als ein ganz neues Problem zu Grunde, von dem ausgegangen werden muss durch Lösen der allerersten rein sachlichen Forderungen. Erst von ihnen aus entstehen die neuen Gesichtspunkte des Ausschmückens. Denn: die Seele unserer gesamten Frauenkleidung muss eine andere werden.

Sie muss es werden auf Grund einer für uns wieder ganz neuen Erkenntnis der Schönheit des menschlichen Körpers.

Das ist keine Angelegenheit etwa des persönlichen Geschmacks, oder allgemeiner vager Gefühle, über die nichts Genaues zu sagen wäre. Das wäre nicht die Art der Aesthetik der Zukunft. Son dern aus der zusammenfassenden Erkenntnis aller anatomischen, biologischen, motorischen Momente des Körpers entsteht ein neues Begreifen des körperlichen Prinzips, welches in dem plastisch erschauten Idealbild des Körpers gipfelt.

Die Einteilung meiner Erörterungen ergiebt sich danach von selbst. Ich muss zum ersten auf das Wichtigste der plastischen Form und des Verhaltens des Körpers eingehen, soweit es hier in Betracht kommt.

Ich muss sodann die Widersprüche nachweisen, in denen unsere Kleidung dazu steht, und zuletzt auf die Perspektiven hinweisen, die die Erkenntnis der Thatsachen uns eröffnet. Ich möchte nicht als Fanatiker angesehen werden, der weit über das Ziel hinausschiesst, wie es ein jeder denken muss, für den die zu behandelnde Materie neu ist. Ich werde streng darauf halten, hier nur Thatsachen zu übermitteln, nicht Wünsche, die dem persönlichen Geschmack entspringen. Dass diese Thatsachen den meisten Menschen unbekannt sind, ändert nichts an ihrer Wahrheit. Auch wenn ich annehmen wollte, dass den Lesern ein Teil derselben bekannt ist, kann ich doch bei meinen Erörterungen über diese Dinge nicht hinweggehen, um die Einheitlichkeit der Entwicklung nicht zu zerreissen. Ich habe zu oft beobachtet, dass viele mit unzusammenhängenden Einzelkenntnissen ohne System nichts anzufangen wussten.

Was dann ein jeder Einzelne auf dem Baugrund, der sich daraus ergiebt, entwickelt, ist seine Sache. Aber niemand kommt ohne die Grundregeln aus, wie niemand eine Rechnung richtig zu Ende führen kann, wenn er aus 2 x 2 stets 5 werden lässt. Der Thatsachenbestand muss als Datum in die späteren Aufgaben eingereiht werden, wie der Physiker und Chemiker die Naturgesetze als Voraussetzung seiner Forschung hinnimmt. Und ein jeder, der auf Logik und Ehrlichkeit in seinem Thun Anspruch macht, muss, so lange er selbst für dieses eintritt, vom sicheren Thatbestand ausgehen und sich nicht mit der beliebten Methode begnügen, erregt zu werden, heftig zu antworten und abzulehnen. Das ist nicht Gewohnheit des intelligenten Menschen und widerlegt wird mit ihr nichts.

Es ist nötig, das Thema aus dem nur Hygienischen oder nur Aesthetischen auf das Ethische zu erheben. Wir müssen unsere Aufgabe ins allgemein Menschliche erweitern, wie wir sie auch in der Kunst erweitert haben, die nicht als eine Spezialentwicklung, sondern als sinnfällig gewordener Ausdruck höheren Menschentums gefasst werden muss. Und so gefasst wird unsere Arbeit zu einem Kampf einer höher entwickelten Menschlichkeit, dem Ethos der Zukunft, gegen die Decadence mit all ihren Aeusserungen: der Unwahrhaftigkeit, 'der Nervenzerrüttung, der Greisenhaftigkeit, der Unnatur, der Perversität, der Selbstvernichtung.

Die Fräuentracht vom 14ten Jahrhundert bis auf unsere Tage bedeutete mit geringen Schwankungen immer ein Mittel, den Leib zu ändern öder ihn doch anders erscheinen zu lassen, als die Natur ihn für ihre mannigfaltigen Zwecke schaffen will. Ihr Sinn bestand nicht in einem Ausbilden des Leibes zu höherer Vollkommenheit, sondern einfach in einem brutalen Gewaltmittel, einem Zerrbild des Ideals näher zu kommen, dessen: tiefste Ursachen aufzudecken eine interessante Aufgabe wäre.

Es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, die in ihrem Denken und Fühlen gesunde Menschen waren und mit Trauer und Grauen diesem Treiben zusahen. Immer ist ihr Kampf ein vergeblicher gewesen.

Man wird uns auch heute zurufen: Was kämpft ihr denn? ihr habt ja recht. Aber es ist doch der uralte Kampf, der nie gefruchtet hat. Ihr ändert ja doch nichts.

Diese müden kampfunfrohen Seelen sind der wahre Feind jeder Entwicklung. Am Gegner wächst die Kraft, an solchen Freunden erlahmt sie.

Alles kann der menschliche Geist erreichen, wenn er mit unerschütterlichem Bewusstsein seiner guten Sache und seiner Kraft ans Werk geht. Dem ist kein Widerstand entgegenzustellen.

Es ist wahr, alle Kämpfe gegen die Verzerrung des Menschenleibes waren bisher vergebens. Aber wohin wären wir bis heut gekommen, wenn dieser Kampf nie gewesen wäre?

Und zum zweiten: wenn nicht alles täuscht: unsere Zeit ist gekommen.

Man betrachte unser Zeitalter. Viele Jahrhunderte vor uns sind thätig gewesen, geistige Güter aufzustauen, die noch unverbraucht daliegen. Die Entwicklung der Wissenschaft, der Er kenntnis des Denkens war eine so rapide, dass wir noch nicht die Zeit hatten, ihr Resumé zu ziehen, mit ihrem Ergebnisse die geistige Kultur unserer Tage zu schaffen. Der Rohstoff an Erkenntnis ist riesengross und die Verwertung desselben zwergenklein. Der Gegensatz von leuchtender Intelligenz und finster mittelalterlicher Unfreiheit ist so ungeheuer, wie er vielleicht noch nie gewesen. Doch von Jahr zu Jahr ändert sich das Bild. Die Menschheit erwacht. Ein junges Geschlecht wächst heran, das mit der Sehnsucht nach Harmonie der Weltanschauung im Herzen geboren wird, das nur noch auf den Weckruf lauert, um herv orzutreten und jene geistig-künstlerische Kultur entstehen zu lassen, von der wir träumen, in einer Grösse und Mannigfaltigkeit, die vielleicht unsere stolzesten Hoffnungen in Schatten setzt.

Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich in dem, was ich nun über den menschlichen Körper sagen möchte, nicht jedem etwas geben kann. Das, was ich vorzubringen habe, erfordert derartig ein Aufgeben aller bisherigen landläufigen Begriffe von der plastischen Erscheinung des Frauenkörpers, erfordert derartig den vollständigen Aufbau eines zwar uralten, aber eben doch für die allgemeine Menschheit neuen Ideals, dass es nicht gefasst werden kann von allen denen, die in den ersten Eindrücken, die sie haben, einrosten, die nicht die geistige Gelenkigkeit besitzen, neue Erkenntnis zu fassen, die nicht die Kraft und den Mut haben, eine Wahrheit anzuerkennen, wenn sie sie zwingt, das, was sie bis jetzt für richtig hielten, über Bord zu werfen. Denn es ist ein altes Naturgesetz, dass man im Alter neue Erkenntnis nicht mehr zu fassen vermag. Dies „Alter'' tritt jedoch bei dem einen schon sehr früh, bei dem andern sehr spät ein. Dann will das Gehirn keine neuen Zellen mehr ansetzen und wirtschaftet nur noch mit dem Vorrat der alten.

Deshalb wird meine Mahnung in erster Linie an das junge Geschlecht gehen, dessen Ohr noch offen ist für jede Wahrheit. Aber auch die intellektuellen Kräfte unter den älteren, die sich noch beugen vor einer Erkenntnis, deren zwingender Gewalt sie nicht zu widerstehen vermögen, werden nicht taub für sie sein.

Kleidung ist vom sachlichen Standpunkt aufgefasst ein Schutz, vom ästhetischen aufgefasst eine Umschreibung: eine Umschreibung des Körpers und seiner Bewegungsfunktionen. Man kann aber nichts umschreiben, ehe man es nicht zum mindesten beschreiben kann. Und man kann nichts beschreiben, was man nicht kennt.

Man wird mir sagen: so ungefähr kenne doch wohl jeder gebildete Mensch den menschlichen Körper, auch in seinen ästhetischen Momenten. Ich muss auf meiner Behauptung bestehen bleiben: man kennt ihn so gut wie garnicht. Und dass diese Unwissenheit besonders über den weiblichen Körper eine beinahe totale ist, davon kann man sich in jeder Stichprobe überzeugen.

Aber woher auch soll man den Körper kennen. Unsere Lebensformen haben zum unbekleideten Körper eine ignorierende oder gar negierende Stellung genommen. In der Schule wird der Mensch über seinen Körper, der doch auf Lebenszeit der materielle Träger seines ganzen Seins ist, gar nicht oder so gut wie gar nicht unterrichtet. Abgesehen von den im heutigen Leben doch immer nur eine vereinzelte Rolle spielenden Werken der bildenden Kunst, erblickt der Durchschnittsmensch überhaupt keine Form des Körpers. Der Anblick eines solchen ist ihm eine Ueberraschung und es spielen dann so viele andere Empfindungen dabei die erste Rolle, dass ein Begreifen der plastischen Form nicht eintritt. Zudem ist das Formengedächtnis der meisten Menschen nicht so geschult, dass diese Einzelfälle sich ihm sofort zu einem Typus, ich möchte sagen: zu der platonischen Idee des Körpers zusammenkrystallisierten. Das wenige, das davon in den Köpfen der Menschheit spukt, hat seine Quelle in den bekleideten Erscheinungen des täglichen Lebens. Diese Erscheinungen des täglichen Lebens aber entsprechen mit ganz verschwindenden Ausnahmen nicht der organischen Idee, die dem Menschenleib zu Grunde liegt, sodass auch ganz vernünftig denkende Leute mit vollkommen falschen Vorstellungen vom Körper herumlaufen. Durch jahrhundertelange Gewohnheit ging eben die Erkenntnis vom Körper verloren, da man jahrhundertelang keine Umschreibung desselben mehr sah, die auf Wahrheit basierte.

Unter den vielen falschen Vorstellungen von der Form des Körpers ist die verkehrteste die von der plastischen Anlage des weiblichen Rumpfes und die vom Fusse, sowohl vom männlichen wie vom weiblichen.

Ich höre den Leser schon wieder denken: ja, darüber ist sich doch wohl jeder vernünftige Mensch einig, dass die geschnürte Taille ein Unfug ist und man ihr zu Leibe gehen muss.

Gewiss. Aber vom Erkennen einer verschnürten Taille bis zum Verstehen der wahren Form des Körpers in all seinen ästhetischen, anatomischen, hygienischen und motorischen Momenten ist noch ein weiter Schritt. Und ich fürchte: bei weitem die Meisten haben ihn noch nicht gemacht. Und viele werden staunen, in welchem Grade neue Wahrheit und alte Vorstellung noch von einander abweichen und welche Veränderungen für die Zukunft daraus hervorgehen.

I. Vom Koerper